Ich besuche die 3. Klasse, bin Klassenprimus, nur für Sport, Musik und Malen kann ich mich so gar nicht erwärmen. Im dritten Schuljahr bekommen wir eine neue Kunstlehrerin, Frau Winterhoff. Als sich unsere Blicke zum ersten Mal treffen, ist sofort klar, dass unsere Beziehung eine der kühleren Art werden wird. Eine Situation, an der sich auch nichts ändert, nachdem ich einige der bescheuerten "Schatzkarten" beim vorsichtigen Anflämmen der Bildränder "versehentlich abgefackelt habe.
Eines Tages überrascht die Lehrerin uns Kinder mit einem Mal-Thema, mit dem wir niemals gerechnet hätten. "Heute dürft ihr malen, was ihr wollt!", lautet die Devise. Ein Auswuchs der antiautoritären Erziehung, die Mitte der 1970er zuweilen seltsame Blüten trug. So auch an jenem Tag und zwar in Form meines Bildes. Wenn ich malen KÖNNTE, wäre es für mich kein Problem, z. B. die Zeitmaschine zu zeichnen (den Film hatte ich kurz zuvor gesehen und war davon fasziniert), aber ich kann es leider nicht. So schleiche ich unschlüssig durchs Klassenzimmer und suche bei meinen Freunden nach Inspirationen.
Autos, Ritter, Häuser, Flugzeuge usw., der ewig gleiche Mist und alles grottenschlecht. Ziemlich arrogant für einen Neunjährigen, der nicht mal das zustande bringt. Und immer, wenn ich von einer Runde zurückkomme, sieht mich bedrohlich mein gähnend leeres DIN A3-Blatt an...
To be continued, sonst wird der Beitrag womöglich zu lang ...
Teil 2:
Inzwischen albere ich mit meinen Lieblingskumpels rum und vergesse die Zeit. Ca. fünf Minuten vor Unterrichtsschluss finde ich mich final an meinem Platz ein und will nun "den Stier bei den Hörnern packen", also mein Bild malen. Ich ergreife den Wachsmalstift und ziehe zwei halbwegs parallele Striche übers Blatt. Diagonal von links unten nach rechts oben. Mmmh ..., könnte ein Baumstamm sein.
Um das Ganze fotorealistischer wirken zu lassen, zeichne ich oben und unten ein paar Äste ein. Uninspirierte Striche also. Es liegt dort ein Baum. Weil mir das allerdings etwas dürftig erscheint, male ich insgesamt fünf Strichmännchen (wie sie vielleicht ein Dreijähriger malen würde) dazu. Drei oben, zwei unten. Abschließend zeichne ich von jedem Strichmännchen bis zum Baum eine gebogene Linie. Feddich !
To be continued ...
Teil 3:
Tja, und dann nähert sich die Lehrerin, die schließlich mitbekommen hat, dass ich praktisch gar nix gemacht habe. "Was soll DAS DENN darstellen ...?!?", fragt sie mich mit leicht erboster Miene. "Das sind fünf Baumfäller, die einen Baum gefällt haben. Und den pinkeln sie jetzt an." Meine Freunde lachen, Frau Winterhoff nicht.
Jetzt, 2022, frage ich mich, ob es vielleicht Picassos humorvoller Geist gewesen ist - denn er ist am 8. April 1973 gestorben -, der damals in mich gefahren war. Er galt/gilt immerhin auch als Meister der einfachen Linie.
Gruß, Tullus